1. Endlich Ferien
JUSTUS«, gellte Fräulein Maikels Ruf durch die Klasse, »nun, Justus, was kommt bei dieser Aufgabe heraus?« Ihr Zeigefinger tippte heftig auf die oberste Aufgabe an der Tafel. »Würdest du gnädigerweise einmal einen Blick auf diese Tafel werfen? Oder sind WIR es nicht wert, dass du uns mit DEINER Aufmerksamkeit beehrst?«
Fräulein Maikels Augen blitzten durch die dicke Hornbrille bis in die letzte Reihe. Benommen schüttelte Justus den Kopf. Er versuchte, die letzten Bilder seines Traums zu verscheuchen. Verwirrt sah er Fräulein Maikel an. Ihr Mund wurde immer schmaler.
»Justus, wird’s bald …?«, fragte die Lehrerin spitz. Sie bemühte sich sichtlich, nicht aus der Haut zu fahren.
Justus schaute sie mit seinen braunen Augen treuherzig an. Ihr Lieblingsschüler, der mondgesichtige Wilhelm, drehte sich in der ersten Reihe um und schnitt wie so oft eine Fratze.
Justus beantwortete die Provokation umgehend mit einer gebührenden Grimasse, eine automatische Reaktion auf diese Pfeife. Die Lehrerin verlor nun total ihre Fassung. Das ging wirklich zu weit! Erst nicht aufpassen, dann so ein unverschämtes Verhalten, das sie auf sich selbst bezog.
»JUSTUS, ES REICHT! LASS AUF DER STELLE DIESE BLÖDEN FRATZEN; ICH WERDE MIT DEINEN ELTERN REDEN ...«
Dieses Gekeife. Nicht auszuhalten! Immer, wenn sie sich so aufregte, spuckte sie - ekelhaft! Für Justus war es kein Wunder, dass sie immer noch nicht verheiratet war. Für ihren strebsamen Liebling Wilhelm konnte Justus nur tiefstes Mitleid empfinden, denn der bekam die Spritzer stets volle Kanne ab.
Mit schnellen Schritten kam sie nach hinten, packte Justus am Ärmel und zerrte ihn hoch. Sie schob ihn quer durch die Klasse vor sich her, wobei sich die Spitzen ihrer Fingernägel schmerzhaft in seinen Rücken bohrten, und jagte ihn zur Tür hinaus. »UND SO WAS NENNT SICH HOCHBEGABT!«
Allein auf dem Gang zu stehen war für ihn eine richtige Erholung. Er lehnte seine schlaksige Gestalt an das große Fenster und sah auf den Schulhof. Jetzt konnte er in aller Ruhe über den Tagtraum nachgrübeln, der ihn abgelenkt hatte.
Schon oft waren unbekannte Bilder vor seinem inneren Auge erschienen und hatten ihn in ihren Bann gezogen. Woher kamen sie? Justus fuhr sich nachdenklich durch seine dunklen, leicht zerzausten Haare.
Soviel er aus seiner Familie wusste, war es seinem Großvater Rupertus früher offenbar ähnlich ergangen. Es klang unheimlich, wenn seine Großmutter zu Hause hin und wieder davon erzählte. Als er noch lebte, nannten ihn die Leute einen »Seher«. Was das wohl bedeutete?
Nicht selten waren Freunde und Nachbarn der Familie gekommen, um sich bei ihm in Notlagen Rat zu holen. Er hatte den Menschen mit seinen „Schauungen“ oft helfen können. Nur sie herbeizaubern, das konnte er nicht, die Bilder ließen sich nicht erzwingen.
Seit einigen Wochen hatte auch Justus diese Tagträume. Sie waren ihm unheimlich.
Hingen sie mit seinem Unfall zusammen? Vor einigen Monaten war er direkt vor ein Auto gelaufen. Danach lag er im Koma, und die Ärzte hatten ihn schon aufgegeben. Doch eines Tages war er wieder aufgewacht.
Eine lange Leidenszeit folgte auf den Unfall. Er hatte vieles vergessen und verlernt. Mühsam musste er wieder schreiben und rechnen lernen - eine harte Zeit.
Schließlich hatte er den Anschluss in der Schule geschafft und war fast wieder der alte. Nur eine Sache war anders. Er hatte diese merkwürdigen Schauungen. Er ›sah‹ Dinge, die andere nicht wahrnahmen. Er hatte dabei immer das Gefühl, als sei er selbst ein Teil dessen, was vor seinem inneren Auge ablief.
Auch vorhin war es so. Die Szene in der Kirche hatte er aus dem Schatten einer Nische heraus beobachtet. Das Licht einer Fackel war auf sein Gesicht gefallen und aus Angst entdeckt zu werden, war er weiter in die Dunkelheit der Wandnische zurückgewichen. Noch immer klangen die Worte in seinen Ohren nach, die dem Novizen vorgelesen worden waren. Er musste herausfinden, was dies bedeutete!
Mit unverminderter Lautstärke hatte die Maikel inzwischen Wilhelm aufgerufen. Von ihm bekam sie jetzt sicher die Antwort, die sie hören wollte. Und dann schrieb sie wie gewohnt eine Eins in ihr rotes Buch. Er war halt ihr Lieblingsschüler. Das ging schon die ganzen Jahre so.
»Noch drei Tage, dann sind wir endlich frei«, flüsterte Justus seiner Banknachbarin Pauline zu, als er nach einer Viertelstunde wieder auf seinem Platz saß.
Sie kannten sich schon seit der Kindergartenzeit. Fast ihre gesamte Zeit verbrachten sie miteinander. Und nun saßen sie hier mehr oder weniger herum, und die letzten Stunden wollten einfach nicht vorübergehen.
»JUSTUS!«
Was um alles in der Welt war jetzt schon wieder los?
»Justus, ich werde mit deinen Eltern noch einmal darüber reden müssen, wie es mit dir weitergeht«, klang es von vorne. Keif, keif, keif. Spritz, spritz, spritz, dachte Justus. Noch drei Tage!
Justus tippte sich, als sie sich wegdrehte, vielsagend an die Stirn. Pauline grinste nur. Bald war der Spuk vorbei, und sie waren von dieser Vogelscheuche befreit. Nur noch wenige Tage und die Zeugnisse wurden ausgeteilt. Dann gab es endlich Ferien. Diesen Drachen von Lehrerin würden sie bestimmt nicht vermissen.
Ungeduldig harrten sie auf den Moment, um sich mit ihren Freunden zu treffen.
Endlich befreit vom Schulstress standen Justus und seine Freunde auf dem Grundstück, wo noch vor kurzem alte Baracken aus längst vergangenen Tagen gestanden hatten. Nun war es das Territorium der Clique um Justus und Pauline, auf dem sie alles bestimmen konnten - zumindest so lange, bis hier die Baustelle für ein neues Wohnhaus entstehen würde.
Alle hatten von zu Hause aus den Werkzeugkästen ihrer Väter alles an Werkzeugen zusammengeklaubt, das sie hier dringend benötigten. So gerüstet konnten sie endlich ihre Hütte fertigstellen. Das Dach musste noch mit Dachpappe bedeckt werden, um das Ganze regensicher zu machen. Die Pappe hatten sie sich von den abgebrochenen Baracken zusammengesucht. Die Stücke waren noch einigermaßen in Ordnung und waren daher gut zu gebrauchen.
»Ihr müsst die Dachpappe glattziehen und dann aufeinander nageln. Dann kommt kein Regen durch«, wies Justus seine Mitarbeiter an. Fleißiges Hämmern und Sägen hallte über das Grundstück, bis mitten im Arbeitseifer einer von ihnen ein paar Mitglieder aus der Neumann-Bande erspähte. Vorsichtig kamen diese Strolche um die Straßenecke geschlichen.
»Hee, seht mal, da kommt der Neumann mit seinen Gorillas.«
Im Nu ließen einige ihre Werkzeuge fallen und eilten den Störenfrieden entgegen, um sie von ihrem Territorium fernzuhalten. Schnell entwickelte sich aus einem ersten Wortgefecht eine wüste Beschimpfung. Die Neumänner nahmen Reißaus, und Justus rannte mit seinen Leuten hinterher.
Mit Gebrüll ging die wilde Verfolgungsjagd quer über die nicht ungefährliche Hauptstraße hinein in eine enge Seitenstraße. Hier standen die Häuser so dicht beieinander, dass die Bewohner sich gegenseitig auf den Küchentisch sehen konnten. Zwei ältere Frauen lehnten auf Kissen in ihren Fenstern und schrien ihnen hinterher: »Wat mat ihr do, ihr Pänz?«
In der nächsten Straße waren die Gegner zu Hause, nur noch um eine Ecke. Im nächsten Moment waren die Neumänner auch schon in ihrer Toreinfahrt verschwunden. Die Jagd hatte ein jähes Ende.
»Fast hätten wir sie gehabt«, japste Justus.
»Mann, immer kommen diese hirnlosen Blödmänner und wollen alles zerstören«, stieß Pauline keuchend hervor. Wütend stemmte sie ihre Fäuste in die Seiten und blickte auf die Toreinfahrt, durch die ihre Gegner gerade entwischt waren.
»Wir müssen uns einen besseren Schutz für unsere Hütte ausdenken. Am besten postieren wir Wachen während der Ferien.«
So vergingen die ersten Ferientage. Über Nacht tüftelte Justus an einem sicheren Verteidigungsplan und stellte ihn seinen Leuten in einem Kriegsrat vor. Eine Art Verteidigungsring musste her, rund um die Hütte, am besten bestehend aus großen Steinen.
Zusammen mit seinem Freund Gerri machte sich Justus auf, um welche von einem Abbruchgrundstück ganz in der Nähe zu besorgen. Hier hatten ebenfalls Steinbaracken gestanden.
Die Steine lagen in großen Geröllbergen herum. Man brauchte sich nur zu bedienen. Trotzdem galt es nicht erwischt zu werden. Man konnte nie wissen, ob jemand sie des Diebstahls bezichtigen und anzeigen würde.
Justus kannte sich hier gut aus. Die ehemaligen Wege waren zwar verschüttet durch die Mauerreste, dafür gab es aber viele Trampelpfade, die sie benutzen konnten. Sie führten über Stock und Stein, und wenn sie nicht aufpassten, konnten sie sich leicht an den scharfen Steinkanten verletzen. Justus und Gerri umrundeten geschickt die gefährlichen Stellen. Schnell kamen sie an den Platz, wo sie die besten Steine für ihr Vorhaben finden konnten.
Bald hatten sie eine erste Schubkarrenladung voll und schoben sie mit vereinten Kräften zufrieden zurück auf ihr Grundstück. Allerdings brauchte es noch ein paar weitere Ladungen, um eine wehrhafte Mauer zu erstellen.